Als Bergsteiger und Steilwandskifahrer ging Dino Beerli früh ans Limit und erlebte das berauschende Flow-Gefühl. Später suchte er Wege, wie er diese gesteigerte Intensität auch ausserhalb der Todeszone erleben kann. Heute unterstützt der 35-Jährige Coach und Organisationsberater Führungskräfte und Teams bei der Potenzialentfaltung – oft mit Hilfe von Spitzensportlern.

Interview in Beruf & Berufung (Tages Anzeiger & der Bund, Mathias Morgenthaler)

Herr Beerli, kein Kind hat den Traum, später Coach oder Berater zu werden. Warum sind Sie schon in jungen Jahren auf die Coaching-Schiene eingebogen?
DINO BEERLI: Das stimmt, Coach taucht wirklich bei den wenigsten Kindern auf der Liste der Traumberufe auf. Ich habe schon während des Studiums als Trekking-Guide gearbeitet, war mit Gruppen in Afrika, Asien und Patagonien unterwegs. Schon da spürte ich: Was mich interessiert, ist die Frage, wozu Menschen wirklich fähig sind, unter welchen Voraussetzungen sie ihre Talente entfalten und ans Limit gehen können.

Wie haben Sie das für sich selber herausgefunden?
Ich war schon in jungen Jahren ein Berg- und Bewegungsmensch und suchte beim Kunstturnen, Klettern, Bergsteigen und Steilwandskifahren die Grenzerfahrung.

Steilwandfahren?
Ja, da steigt man mit Steigeisen, Pickel und Ski am Rucksack auf ausgesetzten Routen Bergwände hoch und stürzt sich dann mit den Ski an den Füssen in die Tiefe. Kurven fahren ist nicht möglich, es ist mehr ein Springen aufgrund der Steilheit. Bei all dem weiss man: Ein falscher Tritt oder ein Sturz bedeuten unweigerlich den Tod. Mut, Selbstvertrauen und eine gute Einschätzung der eigenen Fähigkeiten sind in dieser Situation überlebenswichtig. Es ist schwierig, die Intensität dieser Momente zu beschreiben: Man bewegt sich am obersten Limit, ist extrem fokussiert, erlebt jedes Detail sehr bewusst und geht auf in der Bewegung am Berg. Alles ist im Fluss, es gibt nichts mehr ausser diesem Moment.

So eindrücklich das klingt: Viele zerschellen beim Versuch, die Intensität laufend zu steigern, irgendwann an einer Felswand.
Ja, die Suchtgefahr ist gross, und wenn man es auf die Spitze treibt, dann bezahlt man das früher oder später höchstwahrscheinlich mit dem Leben. Ich habe einige Freunde so verloren und bin dankbar, dass ich den Weg aus der Todeszone gefunden habe und meinem limbischen System, das nach Nervenkitzel schreit, die Zügel nicht mehr ganz freigebe.

Wie haben Sie den Entzug geschafft?
Entscheidend ist, ob man andere Bereiche findet, in denen man ebenfalls ein Flow-Gefühl erleben kann. Bei mir war es die Projektführung und das Coaching. Wenn Sie ein Hochleistungsteam begleiten dürfen und dazu beitragen können, dass jeder im Dienst einer grösseren Sache ein Maximum aus seinen Möglichkeiten herausholt, ist das emotional mindestens so berührend wie ein Alleingang am Berg. In der Essenz geht es uns doch allen ums Gleiche: Wir haben die Sehnsucht, uns lebendig zu fühlen, das Beste aus uns herauszuholen, uns mit Haut und Haar einer Sache zu verschreiben.

Das mag stimmen, aber viele haben nicht den Anspruch, das alles im Job zu erleben.
Stimmt, ich kenne Menschen, die ihr Leben aufteilen: Bei der Arbeit funktionieren sie, am Wochenende und in den Ferien geben sie Vollgas und leben auf. Für mich war immer klar, dass ich meine Passion auch im Alltag leben will. In letzter Konsequenz geht es doch um die Frage: Was will ich wirklich? Wozu bin ich auf dieser Welt? Wer sich dieser Frage stellt, kommt früher oder später an den Punkt, wo er auch beruflich seine Anliegen verfolgen und in seiner Kraft sein will. Aus der positiven Psychologie und den Neurowissenschaften wissen wir, dass Menschen Vorbilder und Herausforderungen brauchen, um zu wachsen. Und dass sie am meisten leisten, wenn sie in Kooperation etwas schaffen können, das ihren Horizont übersteigt. Auch die Arbeitswelt könnte noch viel mehr auf diese Qualitäten ausgerichtet werden. Noch zu oft dominieren Konkurrenz, Kontrolle, Kommando. Viele Führungskräfte wissen schlicht nicht, was alles möglich würde, wenn sich die Mitarbeiter öffnen und angstfrei zusammenarbeiten könnten. Das kann man nicht befehlen, aber man kann durch authentische Vorbildfunktion und eine entsprechende Unternehmenskultur einen guten Nährboden schaffen.

Sie bieten Einzelpersonen und Teams die Möglichkeit, von Spitzensportlern wie Ueli Steck, Ariella Kaeslin oder Simone Niggli-Luder zu lernen. Helfen diese Geschichten wirklich weiter im Arbeitsalltag?
Wir lernen über Vorbilder, in guten Beziehungen und in herausfordernden Situationen. Ich habe als kleiner Knirps so Skifahren gelernt: Ich bewunderte die Besten, schaute ihnen genau zu, imitierte sie und wurde immer besser. Das ist ein gewaltiger Antrieb. Spitzensportler haben auf dem Weg zur Exzellenz gelernt, sich ganz einer Sache zu verschreiben, mutig zu sein, ein realistisches Selbstvertrauen zu entwickeln, in entscheidenden Momenten trotz des hohen Drucks Kraft und Wille zu kanalisieren. Sie leben uns vor, worauf es bei allen Spitzenleistungen ankommt. Wenn sie uns Einblicke in ihren Alltag schenken und ihre Erfahrungen teilen, kann das sehr wertvoll sein.

Wenn Ueli Steck erzählt, wie er in Rekordzeit einen Gipfel erklimmt, ist das zwar eindrücklich, aber weit weg von meinen Herausforderungen. Und wenn Bergsteiger aus ihrem Tun Ratschläge für Manager ableiten und Parallelen zur Führung aufzeigen, wirkt das – pardon – immer etwas forciert.
Einverstanden, wenn Sportler Erfolgsrezepte verteilen, ist niemanden gedient damit. Wir gehen bei «Inspiration Spitzensport» anders vor. Im Zentrum stehen immer die Themen, die Führungskräfte oder Teams bearbeiten wollen. Das kann die Suche der eigenen Berufung und Leidenschaft sein, die Verbesserung des Teamworks oder die Bedeutung der Regeneration. So lernen die Teilnehmer von Spitzenkönnern und haben dann die Gelegenheit zur Reflexion, Vertiefung, persönlichen Auseinandersetzung. Die Spitzensportler können einen Anstoss geben, entscheidend ist die anschliessende Reflexion und Transformation. Zudem ist es mir wichtig, dass wir keine Heldengeschichten präsentieren. Zweifel, Umgang mit Rückschlägen und Durchhaltevermögen in schwierigen Situationen sind ebenso wichtige Themen wie die grossen Erfolge.

Sie sind erst 35-jährig – wie nahe sind Sie Ihrer Berufung schon gekommen mit dem, was Sie machen?
Ziemlich nahe, ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben. Wichtig war die Grundsatzentscheidung, das zu leben, was ich wirklich will, also nicht in erster Linie eine steile Karriere anzupeilen. Wer gut ist, macht so oder so Karriere. Aus der buddhistischen Lehre wissen wir, dass es im Prinzip nur zwei Gewissheiten gibt im Leben: dass es eines Tages vorbei ist und dass niemand diesen Zeitpunkt kennt. Deswegen lebe ich so, dass ich auch morgen oder in fünf Jahren sagen könnte: «Es war richtig und gut, was ich getan habe, und ich kann ohne Reue gehen. Mein Leben war nicht nur erfüllt, sondern ich konnte auch für andere etwas Sinnvolles tun.» Das grösste Privileg bei meiner Tätigkeit ist, dass ich oft in der Natur unterwegs bin und andere bei der Entfaltung ihres Potenzials begleiten kann. Der Schritt in die Selbständigkeit war ein Risiko, aber das Leben ist per se riskant und das grösste Risiko besteht wohl darin, wertvolle Dinge nicht zu tun aus Angst oder falscher Selbstbeschränkung. Ich lebe im schönen Gefühl, mein Spielraum werde täglich grösser.