Wahrer menschlicher Kontakt tut not in Unternehmen und Organisationen. Durch die Funktionalisierung von Beziehungen im Arbeitsleben gehen viele Aspekte verloren, die für ein erfolgreiches Schaffen und Wirken von grosser Bedeutung sind. Aber ein wahrer Kontakt mit einem Anderen kann nur auf der Basis eines wirklichen Kontaktes mit sich selber stattfinden.
«Menschlichkeit» ist ein Begriff, den man im beruflichen Kontext nicht so häufig hört. Für manche klingt er etwas altertümlich und scheint aus der Mode zu sein. Stattdessen hören wir von Menschenrechten, Verantwortung, Rechenschaftspflicht, Transparenz, Leadership, Resilienz, … Die Ansprüche werden immer höher. Führungskräfte und Mitarbeiter sollen funktionieren, und die ihnen zugewiesenen Aufgaben möglichst effizient erfüllen. Andererseits sollen sie, wenn möglich, zu Übermenschen mutieren, die immer mehr über sich selbst hinauswachsen und Fahnenträger der Optimierung werden. Am Horizont wartet bereits die Philosophie des Transhumanismus darauf, mit ihren Ansätzen über das Menschsein hinauszugehen, indem der Mensch immer mehr durch sogenannte künstliche Intelligenz unterstützt, verbessert und zu guter Letzt ganz ersetzt werden soll. Elektronische Hilfsmittel sollen zu künstlichen Organen werden, bis zuletzt der Geist durch die Maschine simuliert wird oder sogar die künstliche Intelligenz den Körper steuert? Zugegeben sind das noch Zukunftsmusiken, aber die Auswirkungen dieser Zielvorstellungen beginnen sich bereits bemerkbar zu machen. Yuval Harari[1], Historiker und Vordenker des Weltwirtschaftsforums, beschreibt beispielsweise, dass es in Zukunft grosse Massen von Menschen geben soll, deren Arbeitsleistung oder sonstigen Fähigkeiten in unserer Gesellschaft für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen oder auch für das Militär «unnötig» werden und die er deswegen als «überflüssig» bezeichnet. Aber sich anzumassen, eine Vielzahl von Menschen als «nutzlos» und «überflüssig» zu bezeichnen, kann eine sogenannte Elite nur, wenn die Dimensionen der Menschlichkeit, welche uns ja zu tiefst ausmachen, wie z.B. Beziehung, Sinn, Kreativität, Intuition, Passion vollständig ausgeblendet werden und der Mensch nur unter materialistischen Nützlichkeitskriterien betrachtet wird. Sind das nicht erschreckende Perspektiven?
Ein reduziertes Denken vom Menschen
Wenn wir ehrlich sind, ist dieses reduzierende Denken nicht bereits vielfach verbreitet? Ich möchte einige Beispiel dafür nennen, wo immer wieder und immer mehr die Menschlichkeit in Unternehmen ausgeblendet wird: Entscheidungen in Unternehmen beruhen immer weitgehender und mehr auf Kennzahlen-Cockpits und Indikatorensystemen. Diese sind auf vielfach hilfreich und bedeutet einen wertvollen Informationsgewinn, wenn sich die Führung in ihren Entscheidungen nicht allein darauf bezieht. Denn die Zahlen zeigen nur auf, wie etwas funktioniert, aber sie liefern keine Erklärungen dafür, warum etwas funktioniert oder warum nicht. Es braucht dazu den Kontakt mit den Mitarbeitenden, mit der komplexen Realität vor Ort, um herauszufinden, was die Probleme im Detail sind. Auf der anderen Seite, wenn mittels Kennzahlen Zielvorgaben gemacht werden, braucht es den engen Kontakt mit den Menschen in den Prozessen, um sie von Sinn und Umsetzbarkeit des Zieles zu überzeugen, Probleme aller Art zu erkennen, und alle «ins Boot zu holen». Somit kann unterschwelliger Widerstand vermieden und stattdessen engagiertes und hoffentlich auch kreatives und innovatives Mitdenken und Mitgestalten ermöglicht werden.
Wahrer Kontakt zu Menschen und Realität
Es braucht also den Kontakt, die Berührung, die Verbindung zu den Menschen und zu der Realität vor Ort. Die Repräsentation allein reicht nicht, sonst entsteht letztlich eine Art von Abgehobenheit, Leere und Bodenlosigkeit. Dadurch geht nicht nur das Verständnis für das «Warum» und damit das tiefe Verstehen der Wirklichkeit verloren, sondern es wird auch nicht mehr bewusst, welche Auswirkungen Entscheidungen, Projekte und Aktivitäten auf die Mitarbeiter, auf das Umfeld und letztlich auch auf die Gesellschaft als Ganzes haben. Alles fängt bei mir an. Bin ich als Führungskraft oder Mitarbeiter in echter Verbindung mit den Menschen, Aufgaben, Prozessen, Zielsetzungen …? Habe ich einen wirklichen Bezug dazu? Hat es für mich eine Bedeutung und berührt es mich, in dem Sinne, dass es mich wirklich angeht? Oder habe ich keinen wirklichen Bezug? Vielleicht gebe ich diesen Bezug nur vor oder bilde ihn mir sogar ein? Aus persönlicher Erfahrung bin ich überzeugt, dass viele Menschen gar nicht wissen, was ein wirklicher Bezug ist, weil sie kaum einen oder sogar gar keinen Bezug zu sich selber haben.
Mangelnder Bezug führt zu Problemen
Ein anschauliches Beispiel für mangelnden Bezug habe ich vor wenigen Jahren in einer grossen produzierenden Firma erlebt. Dort gab es den Leiter einer wichtigen internen Stabsabteilung. Dieser präsentierte sich mit schönen Konzepten für die Umsetzung seiner Thematik. Doch nach zwei Jahren wurde den Personen, die mit der Abteilung zusammenarbeiteten klar, dass es keine Umsetzung der Konzepte gab bzw. dass die Umsetzung nicht funktionierte. Zunächst schien der Verdacht, dass die Abteilung mit zu vielen Aufgaben überfrachtet war. Allmählich merkten die Personen, welche mit der Abteilung zusammenarbeiteten, dass der Leiter unfähig war, mit den unterschiedlichen Bereichen der Firma in Verbindung zu treten und Schritt für Schritt praktische Massnahmen umzusetzen bzw. eine einfache angepasste Vorgehensweise anzuwenden und eine geeignete Dokumentation aufzubauen. Es wurde klar, dass er letztlich seine Mitarbeiter sogar daran hinderte, die praktische Arbeit zu machen, indem er ihre Arbeitskraft brauchte, um gegenüber der Geschäftsleitung die Aktivitäten der Abteilung durch Präsentationen, Berichte und Konzepte in bestem Licht darzustellen oder unproblematische Nebenschauplätze zu bearbeiten. Weder Unterstützungsangebote noch Konfrontationen aus Abteilungen, welche mit ihm und seiner Abteilung zusammenarbeiten mussten, konnten daran etwas verändern. So war nach drei Jahren den Mitarbeitern, die davon tangiert waren, klar, dass die Situation untragbar ist. Nur, auch die Geschäftsleitung hatte zu wenig Verbindung und Kontakt, so dass sie die wahre Situation nicht sehen konnte und wollte. Es brauchte noch weitere zwei Jahre und einige tragische Ereignisse (schwerwiegende Unfälle, Burn-Outs) bis die Konsequenzen gezogen und der Leiter entlassen wurde.
Kontakt ist ein «Sich-Einlassen» auf sich selber
Zugegeben, dies ist vielleicht ein extremes Beispiel, aber es zeigt deutlich, was passiert, wenn Führungspersonen in Unternehmen den Aspekt der «Menschlichkeit» vernachlässigen. Dabei, so hoffe ich, ist es inzwischen klar geworden, dass unter «Menschlichkeit» kein «Nett- und Freundlich-Sein» zu verstehen ist, sondern ein wirkliches Verbunden-Sein und Kontakt mit anderen, um zu erfahren, was wirklich los ist und ein wahrhaftiges «Sich-Einlassen» auf sich selber und eine Selbstverbundenheit, die den Zugang zur eigenen Intuition, zum Gespür für die Wahrheit und zum Mut, richtige, aber eventuell schmerzhafte Entscheidungen zu treffen, ermöglicht.
Innerlich zu seinem Tun stehen
Ich möchte hier noch ein weiteres Beispiel anführen: Ein junger Mitarbeiter ist in einer internationalen Firma damit beschäftigt mithilfe von Computermodellen strategische Szenarien dafür zu entwickeln, wie die Verkaufsorganisation geändert und unter Ausmerzung eines ganzen Geschäftszweiges effizienter und günstiger gemacht werden kann. Die menschlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen werden dabei ausgeblendet und auch anderswo nicht betrachtet. Technisch gesehen ist seine Arbeit interessant und erfüllend, dennoch geht es ihm dabei persönlich nicht gut und er wundert er sich darüber. Auch wenn er sich nicht bewusst mit den Auswirkungen seiner Arbeit beschäftigt, ja diese sogar ausblendet, ist er anscheinend sensibel genug, das zu unterschwellig spüren. Als Folge wirkt es sich letztlich auf sein persönliches Wohlempfinden aus. Dieses Beispiel zeigt, dass wir zwar eine Zeit lang Sachen verdrängen können, dass es letztlich aber wieder auf uns zurückschlägt. Wenn wir nicht wirklich menschlich fühlen und handeln, zerstören wir letztlich unsere eigene Menschlichkeit.
Ebenso ist die Burn-Out-Thematik unter dem Aspekt der «Menschlichkeit» interessant. Das Burn-Out-Phänomen trifft normalerweise Mitarbeiter, die sich sehr engagieren und einsetzen. Sie geraten in einem immer schnelleren Arbeitsrhythmus und grösseren Arbeitsdruck, so dass das Gefühl für das Wesentliche bei der Arbeit, aber insbesondere auch die Verbindung zu sich selber und den eigenen Bedürfnissen verloren geht. Dies geschieht aufgrund einer ungesund überzogenen Identifizierung mit der Arbeit, die keinen Raum mehr für einen wichtigen und gesunden Selbstbezug lässt oder die sogar gegen die tiefsten inneren Wünsche geht. Eine solche Identifizierung mit der Arbeit hat, wenn der tiefe innere Bezug fehlt, keinen Boden, kein Reservoir mehr, aus dem seelische, emotionale und körperliche Energie nachfliessen kann. Somit muss es zum Ausbrennen kommen, weil der Mensch sich dabei vollkommen verloren hat. Wohlgemerkt, ich meine damit nicht den Dienst an einer Sache, die einem wirklich wichtig ist, und die man aus einem inneren Bedürfnis heraus tut. Solange ich den wirklichen emotionalen Bezug zu mir und meinem Anliegen habe, kann ich eigentlich nicht ausbrennen.
Will ich aus einer Nutzenperspektive betrachtet werden?
Nach diesen Beispielen stellt sich nun die Frage: Will ich funktionieren, Resultate erzielen, Kollegen und Mitarbeiter als «Humanressourcen» verstehen und damit in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens für mich und das Unternehmen sehen? Dies bedeutet andererseits zwangsläufig auch, dass ich mich selber aus der Optik einer Nutzenperspektive betrachten lasse und letztlich auch selber so betrachte. Oder will ich zutiefst menschlich sein und handeln: In echter Verbindung mit mir und dann auch mit anderen agieren und mein Tätigkeitsfeld aktiv zum Wohl aller und der Gesellschaft gestalten? Fühlen, was zu fühlen ist, innerlich berührt sein, wahrhaftig sein, meine wahren Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte ernstnehmen, meine vielleicht verschütteten Potentiale entdecken und einsetzen und natürlich meine Freude und Passion einbringen. Dazu muss ich natürlich auch bereit sein mich tiefer kennenzulernen, meine blinden Flecken, meine Konditionierungen, Prägungen traumatischen Erfahren etc. ehrlich anzuschauen und allmählich vor allem über Körperwahrheit und eine sehr bewusste Wahrnehmung der eigenen Gefühle immer näher mit meiner eigenen Individualität und meinem inneren Wesen in Verbindung zu kommen.
Und wie ist es mit dem Unternehmen bzw. dem Umfeld, in welchem ich arbeite? Werden diese Verbindungen, dieser wahre Kontakt mit mir, mit den Kollegen, mit der Realität an sich ermöglicht evtl. gewünscht oder werden sie erschwert und wird sogar davon ablenkt? Aus dieser Verbindung, diesem Bezug zu sich selbst und zu anderen wächst das Vertrauen, in die eigenen Fähigkeiten, in die Zusammenarbeit im Team und in das Wirken des Unternehmens. Ohne Verbindung und Bezug ist kein Vertrauen möglich.
Integre Führungskräfte
Es braucht integre Führungskräfte, die sich selber kennen und die zu dem stehen, was ihnen wichtig ist, die das, was sie von anderen fordern, zunächst selbst einlösen, und die sich auf einen wirklichen transparenten und ehrlichen Kontakt mit den Mitarbeitern einlassen. Hierzu ein einfaches Beispiel: Wie kann ein Mitarbeiter für ein neues Mobilitätskonzept motiviert werden, welches aus ökologischen oder wirtschaftlichen Gründen eingeführt wird und für Parkplatznutzer mit höheren Kosten verbunden ist, wenn die Geschäftsleitung weiterhin mit eigenen kostenlosen und zentralen Parkplätzen und gratis privat zur Verfügung gestellten Geschäftsfahrzeugen privilegiert wird? Dasselbe gilt für ein Unternehmen an sich. Einem Unternehmen, welches nicht greifbar und transparent ist, welches nicht verlässlich ist, dessen Entscheide nicht nachvollziehbar sind und dem die Auswirkungen seines Handelns auf Gesellschaft und ihre Gruppen unwichtig sind, kann kein Vertrauen entgegengebracht werden. Wenn die Gefühle der Mitarbeiter zum Beispiel bei Veränderungen nicht ernst genommen werden, wird sich das mit Sicherheit negativ auf Motivation, und Mitwirkung der Mitarbeitenden auswirken.
Das Gute und Wertvolle sehen
Das so wichtige Vertrauen entsteht aus der wahren Verbindung untereinander und zu dem, was mein eigenes Wesen ausmacht. Verbindung ist das, was uns zu tiefst menschlich macht. Aber Verbindung kann nur stattfinden, wenn gewisse Grundvoraussetzungen erfüllt sind: Sehe ich das Gute, Wertvolle und Liebenswerte in mir? Sehe ich das Gute, Wertvolle und Liebenswerte auch im Anderen? Bin ich bereit mich wahrhaftig zu zeigen und zu äussern? Ohne diese bejahende, ja letztlich liebende, aber wahrhaftige Grundhaltung kann keine förderliche und wahrhaftige Verbindung entstehen. Und erst dann sind Menschen wirklich zutiefst kritik- und veränderungsfähig.
Es ist Zeit, dass wir uns verändern, indem wir unsere zutiefst menschliche Seite wieder zulassen und einen durch Liebe und Wahrheit geprägten Selbstbezug und Aussenkontakt leben. Auf diese Weise werden wir gestärkt und können dann mit anderen Menschen zusammen darauf hinwirken, dass die Unternehmen und Organisationen, in denen und für die wir arbeiten, Schritt für Schritt menschlicher werden. Ideal wäre es, wenn am Schluss die Organisation so beschaffen wäre, dass sie die in ihr tätigen Menschen sogar in der Entwicklung zu einem vollen Mensch-Sein fördert.
Dr. Clemens Lang, Februar 2023
Autor:
Dr. phil. nat. Clemens Lang ist Diplom-Physiker und hat in Klima- und Umweltphysik doktoriert. Von 2000 - 2014 hat er Unternehmen und Organisationen zu Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility im In- und Ausland im Rahmen einer Beratungsfirma als Experte beraten. Seitdem war er in Teilzeit bei einem Unternehmen der Migros-Industrie sowie seit 2021 beim Kantonsspital Freiburg als Verantwortlicher für Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeitsmanagementsysteme zuständig. Seit seinen mehrjährigen Ausbildungen als Coach, Supervisor und Organisationsberater bso (2007-2010, zak, Basel) und ganzheitlicher Coach für AMW-Therapie (2015-2018, IFEB, Dresden) ist er im Rahmen seiner eigenen Beratungsfirma (www.phoenixcoaching.ch) auch als Experte für Teambildung und Organisationstransformation sowie als Coach für Einzelpersonen zu beruflichen und persönlichen Themen tätig. Daneben bietet er regelmässig Seminare u
[1] https://report24.news/wef-vordenker-dr-harari-raetselt-was-man-mit-all-den-wertlosen-menschen-tun-soll/